Bahnhofstr. 36 – Familie Hanau
- Max Hanau
- Irma Hanau geb. Mannheimer
- Franziska Mannheimer, geb. Heilbrunn
- Yvonne Hanau
- Herbert Hanau
- Erich Hanau
- Ilse Hanau
Max Hanau stammte aus Hüttersdorf im Saarland, und war mindestens seit den 1910er Jahren in Vilsen ansässig. Er scheint gut in das Gemeindeleben integriert gewesen zu sein und wird z.B. in der Zeitung erwähnt, weil er eine historische Münze gefunden hatte. Er arbeitete als Viehhändler. 1) 2) 3)
Er heiratete am 30.9.1919 Irma Mannheimer (*14.05.1897). Sie stammte aus Cochem an der Mosel, wahrscheinlich aus der Familie des Lehrers der dortigen Synagogengemeinde. Ihre Mutter Franziska Mannheimer, geb. Heilbrunn (*10.05.1873 in Frankershausen) war ebenfalls mit nach Vilsen gezogen. Irma und Max hatten vier Kinder: Yvonne (*1921), Herbert (*1922), Erich (*1923) und Ilse (*1925). 4) 5)
Während des 1. Weltkriegs war Max Hanau im Infantrieregiment 74 und Vizefeldwebel. Er wurde 1916 und 1918 verwundet. Er soll laut Zeitzeugenbericht einem General das Leben gerettet haben und dafür auch öffentlich geehrt worden sein. Dies könnte auf dem Engelbergplatz stattgefunden haben, wo das Nagelkreuz für den Ersten Weltkrieg stand. Im Oktober 1914 erhielt er dafür anscheinend das Eiserne Kreuz 2. Klasse 6) 7)
Die Familie lebte zunächst im alten Stoffregenschen Haus an der Bahnhofstrasse und erwarb danach das schräg gegenüber liegende Haus der jüdischen Viehhändlerfamilie Falk. 9)
Laut einer Zeitzeugin halfen die Herbert und Erich oft bei Schlachter Hustedt nebenan aus, wo sie dann eine Scheibe Wurst als Belohnung bekamen. Die ältere Tochter Yvonne heiratete Siegfried Ehrlich (*01.05.1916) aus Preussisch-Oldendorf. Sie soll eine Ausbildung in einem Hotel gemacht haben. Der älteste Sohn Herbert hatte wohl einen der begehrten Plätze an der Israelitischen Gartenbauschule in Hannover-Ahlem erhalten, der ihn auf eine Auswanderung nach Palästina vorbereiten sollte. Er machte dort ab 1935 eine landwirtschaftliche oder handwerkliche Ausbildung. Er war erst 13 Jahre alt. 11) 12)
Die Landesbauernschaften der NSDAP wollten die jüdischen Viehhändler aus dem ländlichen Alltag tilgen und gingen gegen sie besonders aggressiv vor. Dies ging soweit, dass das jüdisch konnotierte Wort Viehhändler nicht mehr verwendet werden sollte, sondern das Kunstwort „Viehverteiler“. Teilweise schon ab 1933 wurden jüdische Viehhändler aus den Berufsverbänden und von den Märkten ausgeschlossen, obwohl eine gesetzliche Regelung erst 1938 vorlag. 13) 14)
Bei Max Hanau soll die SA schon früh Boykottaktionen durchgeführt haben, die vermutlich seinen finanziellen Ruin bedeuteten. Der Kredit bei der Spar- und Darlehensbank, den die Familie für den Hauskauf aufgenommen hatte, wurde 1936 gekündigt. Auch an anderen Orten ordnete die Landesbauernschaft zeitgleich an, dass jüdischen Viehhändlern Bankkredite aufgekündigt wurden. Die Vorstände der Banken und Sparkassen waren mit NS-Funktionären durchsetzt, so war z.B. Bürgermeister Schirmer zugleich im Vorstand der Kreissparkasse. Im Rückerstattungsprozess wurde dokumentiert, dass die Hanaus wohl über mehrere Jahre hinweg erfolglos versucht hatten, sich gegen die Kreditkündigung zu wehren, und nachzuweisen, dass sie auf politischen Massnahmen beruhte. 16) 17) 18)
Im Mai 1938 wurde die Zwangsverwaltung angeordnet. Das Haus wurde am 15.07.1938 zwangsversteigert und von der Spar- und Darlehensbank für 7000,- RM erworben. Am 12.08.1938 wurde es vom Auktionator Engelberg im Hoyaer Wochenblatt angeboten und von den Nachbarn der Hanaus für 11.000 RM erworben. 19) 20)
Einer Zeitzeugin zufolge hielt der General, dem Max Hanau im 1. Weltkrieg das Leben gerettet hatte, schützend die Hand über die Familie, die am 19.02.1938 in die Grossestr. 12 nach Hannover-Limmer verzog. Für diesen Bericht spricht, dass Max Hanau und seine Söhne anscheinend während der Verhaftungen aller erwachsenen männlichen Juden im Zug der Pogromnacht am 9./10. November in Hannover nicht verhaftet wurden. Zumindest tauchen er oder seine Söhne nicht auf den entsprechenden Listen des KZ Buchenwald auf. 21) 22)
In der Grossestrasse war Max Hanau 1939 als „Arbeiter“ gemeldet, d.h. er war inzwischen mittellos und wahrscheinlich dem Arbeitsamt unterstellt. Die Zeitzeugin berichtete auch, dass der General die Familie irgendwann nicht mehr schützen konnte (ohne Zeitangabe). Max und Irma mussten mit den beiden jüngeren Kindern in das Judenhaus in der Herschelstr. 31 ziehen. Tochter Yvonne lebte mit ihrem Mann zuletzt im Judenhaus in der Dietrichstr. 28. Herbert war in der Schaumburgstr. 20 gemeldet. Alle wurden im gleichen Transport am 15.12.1941 in das Ghetto Riga deportiert. 23) 24)
Hier wurden die Söhne von den Eltern getrennt und in das Nebenlager Salaspils gebracht, wo sie unter extremen Bedingungen und fast ohne Nahrung Zwangsarbeit ausführen mussten. Als sie versuchten, durch einen Zaun zurück ins Ghetto zu kommen, ereignete sich der folgenden Vorfall, der von Gertrude Schneider, einer Mitgefangenen, dokumentiert wurde:26)
[Am 30.] Dezember 1941 versuchten die Brüder Erich Hanau (18 J.) und Hermann Hanau (19 J.) [an anderen Stellen als als Herbert Hirschland oder Kurt Hirschkowitz (16 J.) geführt] aus Salaspils zu fliehen, um zu ihren Eltern und der jüngeren Schwester ins Ghetto zurückzukehren. Sie wurden von der Polizei aufgegriffen und nach Salaspils zurückgebracht, wo sie von Lange und Maywald mit Ohrfeigen empfangen wurden.27) 28)
Um ein Exempel zu statuieren wurden Erich und eventuell auch Herbert am 02.01.1942 in Riga-Salaspils vor den versammelten Lagerinsassen erschossen. Ilse, Yvonne und ihre Mutter Irma wurden am 01.10.1944 in das berüchtigte KZ Stutthoff verlegt. Ilse überlebte noch bis zum 10.01.1945 und wurde dann in Stutthof ermordet. Laut Testimonials aus den 1980er Jahren wurden Max, Irma und Herbert (?) in Auschwitz ermordet. Yvonne wurde für tot erklärt.
Nachtrag: Die Namensverwechselungen gehen wohl darauf zurück, dass es im Frühjahr 1942 zweimal zu Erschiessungen von jeweils zwei Jungen Männern kam, die versucht hatten, aus dem Lager zu fliehen. Ein Herbert Hirschland aus Hannover, der in Riga und danach in Stutthof gefangen war, überlebte die Lager und verstarb 2009 (siehe hier). Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei bei dem zweiten Erschossenen in Salaspils tatsächllich um Herbert Hanau gehandelt hat.
References
↑1 | Meldekarten, Samtgemeindearchiv Bruchhausen-Vilsen |
---|---|
↑2 | Adressbuch Bruchhausen-Vilsen 1936 |
↑3 | GemA BVI 03 Literatur 50.341.01 |
↑4 | Hoyaer Wochenblatt 30.9.1919 |
↑5 | Meldekarten, Samtgemeindearchiv Bruchhausen-Vilsen |
↑6 | Verlustlisten http://wiki-de.genealogy.net/Verlustlisten_Erster_Weltkrieg/Projekt |
↑7 | H. Bomhoff, Notizkarten Stadtarchiv Syke, Quelle unklar |
↑8 | GemA BVI 03 Literatur 50.341.01 |
↑9 | GemA BVI 03 Literatur 50.341.01 |
↑10 | Foto: Privatbesitz |
↑11 | Zeitzeugengespräch 08-2020 |
↑12 | Meldekarte Samtemeindearchiv Bruchhausen-Vilsen |
↑13 | siehe z.B. Fischer, Stefanie http://www.igdj-hh.de/files/IGDJ/pdf/hamburger-beitraege/stefanie-fischer_oekonomisches-vertrauen-und-antisemitische-gewalt.pdf S. 211 |
↑14 | http://www.gedenkstaettenverein-sandbostel.de/text_pdf/Vortrag%20Juden%20in%20Zeven_korr1.pdf |
↑15 | www.ansichtskarten-bruchhausen-vilsen.de |
↑16 | NLA ST, Rep. 171 Verden Rückerstattung, acc. 2009/057 Nr. 646 |
↑17 | https://de.wikipedia.org/wiki/Julius_Brumsack |
↑18 | Entnazifizierungsakte Heinrich Schirmer, Landesarchiv Hannover |
↑19 | NLA ST, Rep. 171 Verden Rückerstattung, acc. 2009/057 Nr. 646 |
↑20 | GemA BVI 03 Literatur 50.341.01 |
↑21 | Zeitzeugengespräch 08-2020 |
↑22 | Auskunft Gedenkstätte Buchenwald, Frau Dellemann |
↑23 | Deportationsliste Hannover – Riga 15.12.1941 |
↑24 | Deutsch-Israelische Gesellschaft Hannover, Listen der Bewohner der Judenhäuser in Hannover |
↑25 | Wikipedia |
↑26 | Angrick, Andrej; Klein, Peter (2009) The ‚Final Solution‘ in Riga: Exploitation and Annihilation, 1941-1944, Berghahn Books |
↑27 | Schneider, Gertrud (2008) Reise in den Tod – Deutsche Juden in Riga 1941 – 1944, Laumann Druck und Verlag |
↑28 | https://recherche.staatsarchiv.hamburg.de/ScopeQuery5.2/detail.aspx?ID=1314388 |