Ezequiels Eröffnungsrede

Ezequiels Eröffnungsrede

Botschaft für die Stolperstein-Verlegung von Ezequiel Lindenberg und seiner Familie

Als erstes möchte ich allen danken, die bei diesem Projekt mitgemacht haben. Durch unsere gemeinsame Arbeit wird diese Verlegung nun möglich. Leider ist mein Großvater Hans-Joachim Lindenberg nicht mehr am Leben und kann dies nicht miterleben. Er hatte eine harte Kindheit in seinem Herkunftsland und war schließlich gezwungen, es zu verlassen. Ein paar Worte über sein Leben:

Er war der freundlichste und aufrichtigste Mensch, den ich kannte. Er war stolz auf seine Herkunft und auch auf seinen Familiennamen. Er erzählte mir immer Geschichten über die Herkunft unserer Familie aus Deutschland, und dass die Lindenbergs anerkannte Bürger dieses Ortes gewesen waren. Er erzählte mir auch von einer Straße, die unseren Namen trug, weil seine Familie hier schon seit 200 Jahren ansässig war.

Mein Großvater wollte allerdings nicht im Detail über seine Kindheit in Deutschland sprechen, und er lehnte Deutschland sehr ab.  Als ich ein Kind von 13 Jahren war, habe ich seine Lebensgeschichte nicht wirklich verstanden. Er hat mir wenige Einzelheiten über seinem Heimatort erzählt, aber eine Geschichte habe ich nie vergessen, weil er sie mir mit Tränen in den Augen erzählte: Wie er von seinen eigenen Schulkameraden und ehemaligen Freunden in einen zugefrorenen See geworfen wurde, weil er jüdisch war. Erlebnisse dieser Art waren die Ursache für seine negativen Gefühle gegenüber Deutschland, die er auch teilweise an seine Kinder weitergegeben hat. Dies hat ihn aber nie daran gehindert, auch Schönes über seine Familie zu berichten.

Mein Großvater starb im Januar 2007, und im Dezember 2009 während der Sommerferien wuchs mein Bedürfnis, mehr über meinen Familiennamen und meine Herkunft zu erfahren. Diesen Sommer verbrachte ich mit Recherchen und zwar begann ich mit den wenigen Dingen, an die ich mich erinnern konnte. Ich googelte den Namen meines Urgroßvaters „Hugo Lindenberg“ und „Bruchhausen-Vilsen“.

Dadurch stieß ich auf einige Informationen, die ich mit den vielen Bilden und Dokumenten, die im Haus meines Großvaters fand, bestätigen oder berichtigen konnte. Ich versuchte auch, die Lindenberg-Straße zu finden, aber auf Google Maps gab es zu der Zeit bloß einen „Linnenberg“. Ich war aber ziemlich sicher, dass er etwas mit der Geschichte meines Großvaters zu tun hatte.

Es war 2010 und ich begann mein letztes Jahr in der Oberstufe. Ich weiß nicht mehr genau, wie es kam, aber mein Lehrer für Jüdische Geschichte erzählte mir etwas über ein Projekt, bei dem man solche Recherchen einschicken konnte: Es war ein Wettbewerb des Museum of the Jewish People in Tel Aviv (Beit Hatfutsot). Mit meinem Bericht gewann ich einen Sonderpreis für meine Schule und mein Text wurde daraufhin auf die Webseite der Schule hochgeladen.

Sie können sich vorstellen, wie glücklich und enthusiastisch ich als 17-jähriger war. Mein Lebensziel war, mit den Familienfotos meines Großvaters nach Bruchhausen-Vilsen zu reisen, mehr über sein Leben herauszufinden und sein Herkunftshaus zu finden. Im Januar 2012 flog ich mit einem Verwandten, der Deutsch spricht, für 3 Tage nach Deutschland, nur um diesen Ort für einen Tag zu besuchen.

Wir besuchten das Archiv, wo man uns sagte, dass das Haus,  in dem mein Grossvater aufgewachsen ist, wohl nicht mehr stünde, weil es entweder zerstört worden wäre oder umgebaut worden ist. Wir bekamen noch einige Informationen über die Geschwister von Hugo Lindenberg, die ich allerdings schon hatte, und dann verließen wir das Archiv und wanderten im Ort umher. Wir haben das Haus damals nicht gefunden, aber wir fanden den Lindenberg, und schon das war die Reise wert. Wir sahen auch die Lindenberg-Apotheke, aber ich war zu schüchtern, um reinzugehen und Fragen zu stellen. Man hatte uns zuvor gesagt, dass sie nichts mit meiner Familie zu tun habe, sondern nach der Straße benannt sei.

Um eine lange Geschichte etwas kürzer zu machen: Im Jahr 2015 kontaktierte mich ein Mädchen aus den USA, die meinen Schul-Text gefunden hatte, weil darin auch ihr Urgroßvater erwähnt wird. Sie arbeitete ebenfalls an einer Recherche über ihre Familie für ein Schulprojekt. Wir trafen uns in New York und arbeiten seitdem gemeinsam an einer Dokumentation unserer Geschichte. Wir haben inzwischen Kontakt mit einer Reihe von Verwandten von verschiedenen Zweigen der Familie, die auch bei unserer Recherche mithelfen: unter anderem Nachkommen von Hugos Schwester Clara und von seinem Bruder Emil, die alle ursprünglich aus Vilsen stammten. Seit 2018 wird die Recherche von Deutschland aus durch Frau Meyer unterstützt. Seit Ende 2018 haben wir Kontakt mit der Schülergruppe am Gymnasium Bruchhausen-Vilsen, die sich seit 2016 für die Stolperstein-Verlegung einsetzt.

Ich habe Ihnen bisher berichtet, was in den letzten zehn ereignisreichen Jahren meines Lebens passiert ist, aber ich möchte meine Nachricht abschließen, indem ich kurz darüber spreche, was die Stolpersteine, und alles, was daran hängt, für mich bedeuten:

Ich habe schon über die Ablehnung berichtet, die mein Großvater gegenüber Deutschland empfand, und dass er diese auch an seine Kinder, einschließlich meines Vaters, weitergegeben hat. Ich bin aber sicher, dass mein Großvater, Hans-Joachim Lindenberg, stolz auf mich und dieses Projekt wäre, weil es ein Projekt mit Kindern, Schulen und deren Familien ist.

Mein Vater, der ähnlich negative Gefühle hatte, hat durch das Projekt ebenfalls begriffen, dass sich die Zeiten geändert haben. Dass es Menschen gibt, die anders sind und anders handeln wollen.
Er ist dafür dankbar, und wollte aus Anlass der Verlegung sogar seinen Schwur brechen, niemals nach Deutschland zu reisen. Für ihn symbolisiert dieses Projekt eine Bitte um Verzeihung und eine Anerkennung unserer Familie durch unseren Herkunftsort.

Meine ganze Familie, besonders mein Vater und mein Onkel, möchten allen Beteiligten, die bei diesem Projekt geholfen haben, ihren Dank ausdrücken.

Wegen des Corona-Virus können wir nun leider heute nicht anwesend sein, aber wir sind trotzdem sehr glücklich über diese Verlegung. Für mich persönlich wird heute mein Kindheitstraum wahr, aber am wichtigsten ist mir, dass das Stolpersteine-Projekt ein Aufklärungsprojekt ist.

Durch das Stolperstein-Projekt können wir sicherstellen, dass niemals vergessen wird, was hier geschehen ist. Und wir können dadurch der jüngeren Generationen begreiflich machen, was geschehen ist.  

Wir wollen, dass Vorbeigehende sich fragen: Warum liegen die Steine hier? Wir berichten, was war und erreichen dadurch, dass es sich niemals wiederholt.